Durchfall? Zu spät aufgestanden? Die Schwiegermutter wartet mit dem Essen zu Hause? Alles keine Gründe, dass Sie zu schnell fahren dürfen. Doch es gibt tatsächlich Situationen, da DÜRFEN Sie Gas geben…

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Vor einigen Tagen haben Sie bei uns den Artikel „Da bekommt der Begriff Flitzkacke mal ein ganz neue Bedeutung“ gelesen. Darin haben wir klargestellt, dass der „rechtfertigende Notstand“ (§ 16 Ordnungswidrigkeitengesetz) selten anerkannt wird und erst recht kein Freibrief zum Rasen ist. Aber es gibt ihn! Doch worauf kommt es dabei an und was steht eigentlich in diesem ominösen Paragraphen? 

„Rechtfertigender Notstand"

Sein Kernsatz lautet: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Handlung begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, …“ Dies gilt jedoch nur, wenn die an sich regelwidrige Handlung ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

Ein kleiner Exkurs in die juristische „Denke“

Was fangen wir jetzt damit an? Nun, es gibt ein anschauliches Beispiel, das Juristen gerne anführen: Sie müssen einen Verwandten, der an Diabetes leidet, zum Arzt fahren. Zehn Minuten, bevor Sie dort eintreffen, sackt Ihr Beifahrer bewusstlos in sich zusammen. Um ihn zu retten, geben Sie Gas, überschreiten zulässige Geschwindigkeit, erreichen dafür aber die Praxis bereits nach sieben Minuten. Der kollabierte Beifahrer wird gerettet.

Vorsicht! Juristen denken anders!

War dann Ihre Geschwindigkeitsübertretung gerechtfertigt?
Nach landläufiger Meinung: Ja.
Doch Vorsicht! Nicht vorschnell urteilen, denn die juristische Denke ist – manchmal zum Leidwesen einiger Betroffener – gründlicher.
Also: mit welchen Fragen haben wir uns hier zu befassen?

Fragen, die sich jeder stellen muss

• Erstens: Gab es wirklich eine Gefahr?  Ja, nämlich fürs Leben. Vorgabe des § 16 erfüllt!
• Zweitens: War die Abwendung dieser Gefahr wichtiger als die Sicherheit des Straßenverkehrs?  Wenn kaum Verkehr herrschte, ja. Falls doch, wird die Sache vor Gericht kritisch.
• Drittens: Hat die Ordnungswidrigkeit tatsächlich zu einer Gefahrenabwehr geführt?  Sicher können wir hier auch mit „ja“ antworten: Die Zeitersparnis war erheblich – weswegen der Patient ja auch tatsächlich gerettet wurde.
• Viertens: Hätte es Alternativen gegeben, z. B. einen Notarzt zu rufen? In diesem Fall sicher nicht – ein Notarzt hätte mindestens zehn Minuten benötigt, um Sie zu erreichen. Für den Ohnmächtigen wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach zu spät gewesen.
Das Fazit: Alle anderen Maßnahmen hätten hier nicht geholfen. Deshalb lag tatsächlich ein rechtfertigender Notstand vor.

Wichtige Gerichtsurteile

Doch diese seltenen Fälle, in denen Gerichte dieser Auffassung folgen, lassen sich an einer Hand abzählen. Hier zwei Beispiele:
1. Das Missachten einer roten Ampel ist gerechtfertigt, wenn ein Auffahrunfall durch das nachfolgende Fahrzeug anders nicht zu verhindern ist.
2. Die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Taxifahrers wegen einer in den Wehen liegenden Frau ist gerechtfertigt.
Einen „Freifahrschein“ gibt es also tatsächlich. Lassen Sie es besser jedoch nicht darauf ankommen. Normalerweise ziehen Sie den Kürzeren…
 
Textbezogene Paragraphen / Urteile:
OLG Düsseldorf: 5 Ss (OWi) 319/91, OLG Düsseldorf: 5 Ss (OWi) 411/94
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